- Medizinnobelpreis 1973: Karl von Frisch — Konrad Lorenz — Nikolaas Tinbergen
- Medizinnobelpreis 1973: Karl von Frisch — Konrad Lorenz — Nikolaas TinbergenDie österreichischen Zoologen Karl von Frisch und Konrad Lorenz sowie der britisch-niederländische Forscher Nikolaas Tinbergen wurden »für ihre Entdeckungen zur Organisation und Auslösung von individuellen und sozialen Verhaltensmustern« ausgezeichnet.BiografienKarl von Frisch, * Wien 20. 11. 1886, ✝ München 12. 6. 1982; ab 1905 Medizin-, ab 1908 Zoologiestudium, 1910 Promotion und 1912 Privatdozent für Zoologie und vergleichende Anatomie, ab 1919 Professur für vergleichende Physiologie an der Universität Rostock, 1921-25 Professur für Zoologie an der Universität Breslau, 1925-58 an der Universität München.Konrad Zacharias Lorenz, * Wien 7. 11. 1903, ✝ Wien27. 2. 1989; 1928 Promotion im Fach Medizin, 1933 im Fach Zoologie, 1937 Privatdozent an der Universität Wien, 1940-45 Professor für Psychologie in Königsberg, 1949 Gründung des Instituts für vergleichende Verhaltensforschung, 1961-73 Direktor des Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie.Nikolaas Tinbergen, * Den Haag 15. 4. 1907, ✝ Oxford 23. 9. 1988; 1932 Promotion; 1936-47 Lehrtätigkeit an der Universität Leiden, seit 1947 dort Professor für experimentelle Zoologie, ab 1949 an der Oxford University.Würdigung der preisgekrönten LeistungBei aller Verschiedenheit in der Wahl der untersuchten Tierarten und bezüglich des wissenschaftlichen Selbstverständnisses eint von Frisch, Lorenz und Tinbergen methodologisch die Untersuchung frei lebender Tiere in ihrer natürlichen Umgebung und ein evolutionsbiologisches Verständnis der Verhaltensanpassungen. In der Art der Tieruntersuchung charakterisierte Lorenz sich selbst als »Bauer«, das heißt, als einen Forscher, der Tiere zähmt und dann genau beobachtet, Tinbergen als »Jäger«, das heißt, einen Forschertyp, der im Freiland unter natürlichen Lebensbedingungen beobachtet, während von Frisch als »Experimentator« im Freiland forschte.Die Entdeckung neuer VerhaltensweisenVon Frisch untersuchte fünf Jahrzehnte lang eines der komplexesten Informationssysteme bei Insekten. Die von ihm entdeckten Verhaltensweisen »Rundtanz«, »Sicheltanz« und »Schwänzeltanz« der Honigbiene beschrieb von Frisch als Elemente einer »Bienensprache«, mit der Informationen über Entfernung und Richtung der Nahrungsquelle und bei der Wohnungssuche an Artgenossen übertragen werden. Der Aufstieg zu einem erfolgreichen Tierexperimentator erfolgte in einer Kontroverse 1912-1914 mit dem deutschen Wissenschaftler Carl von Hess, dessen These, dass wirbellose Tiere und Fische farbenblind seien, in anschaulichen Versuchen von ihm widerlegt wurde.Auf Lorenz geht die Erforschung der Prägung und des tierischen Sozialverhaltens zurück, das er vor allem an Dohlen und Gänsen untersuchte. Der 1941 erschienene Aufsatz »Vergleichende Bewegungsstudien an Anatinen« mit der Beschreibung von verschiedenen Verhaltensformen (»Antrinken«, »Kurzhochwerden«, »Pumpen«) gilt als exemplarisch für den Forschungsansatz der vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie). Durch die wissenschaftstheoretische Abgrenzung gegenüber dem tierpsychologischen Instinktbegriff des Niederländers Johannes Diederik Bierens de Haan im Jahr 1937 und innerhalb der Debatte Angeboren — Erworben gegenüber dem behavioristischen Lernbegriff im Jahr 1953 begründete Lorenz die eigenständige Untersuchung angeborenen Verhaltens. Zu den umstrittensten Konzepten von Lorenz gehören das »Triebstaumodell« und die spekulative Annahme einer »aktionsspezifischen Energie«.Tinbergen untersuchte die Funktion von Schlüsselreizen und AAMs (angeborene Auslösemechanismen) im Sozialverhalten bei Insekten (Bienenwolf, Sandwespen, Samtfalter), im Brutpflegeverhalten der Silbermöwe sowie der Balzkette des Stichlings und beschrieb 1940 »Übersprungbewegungen«. Die zusammen mit Lorenz 1937 an der Eirollbewegung der Graugans entwickelte präzisierte Instinktterminologie der klassischen Ethologie wurden von Tinbergen 1951 in ein einprägsames hierarchisches Instinktmodell überführt.Lob und Tadel für die Preisverleihung 1973Es dürfte kaum eine Nobelpreisverleihung gegeben haben, die auf eine breitere Zustimmung in der Wissenschaft und ein regeres Interesse der Öffentlichkeit stieß als die Auszeichnung 1973. Die Untersuchung tierischen Verhaltens wurde mit diesem Nobelpreis endgültig von dem Status einer Liebhaberwissenschaft zu dem einer ernst zu nehmenden biologischen Forschung erhoben. So schrieb der deutsche Biologe Klaus Immelmann ein Jahr nach der Preisverleihung: »Die Verhaltensforschung gehört heute zu den wichtigsten Zweigen der biologischen Wissenschaften.«Mehrere Sachverhalte machen die Preisverleihung 1973 aus historischer Sicht zu einem besonderen Datum: Es ist zum Beispiel bemerkenswert, dass weder der bedeutende Tierforscher Jakob Johann von Uexküll, dessen Nachkommen den »alternativen Nobelpreis« stifteten, noch der Begründer der Ethologie, der deutsche Zoologe Oskar Heinroth, noch der Amerikaner Edward Wilson als ein Begründer der Soziobiologie mit einem Nobelpreis geehrt worden sind, was die Nobelpreisverleihung 1973 in der Logik der experimentellen Tierforschung zu einem Sonderfall werden lässt.Von Frisch, Lorenz und Tinbergen gehören national und international zu den bedeutendsten Forscherpersönlichkeiten der Biologie. Nach von Frisch sind Auszeichnungen der Zoologischen Gesellschaft und ein Abiturientenpreis benannt, nach Tinbergen ein Förderpreis der Ethologischen Gesellschaft. Andererseits gibt es im 20. Jahrhundert keine Preisverleihung, bei der drei so bedeutende Forscher sich einen Preis teilen mussten. Ein wissenschaftslogisches Argument der Preisverleihung 1973 ist, dass die drei Forscher die eigenständige biologische Verhaltensdisziplin Ethologie jenseits der Physiologie begründeten und stammesgeschichtlich erworbene Reaktionen und Abläufe von Lebensvorgängen bei Organismen aufgeklärt werden konnten. Grundlage der »vergleichenden Verhaltensforschung« sind die Beobachtungen und Analysen von Homologien. Für alle drei Forscher erfolgte die Ehrung erst spät nach mehreren Jahrzehnten intensiver Forschertätigkeit.Der Zeitpunkt der Preisverleihung im Jahr 1973 fiel bereits in die Endphase der klassischen Ethologie. Die Instinktterminologie war von der folgenden Forschergeneration aufgegeben worden und Wilsons Buch »Sociobiology« (englisch; Soziobiologie) hatte 1975 die Forschung in eine neue Richtung gelenkt. Von der deutschen Biologin Hanna-Maria Zippelius wurden die Untersuchungen von Lorenz und Tinbergen 1992 unter dem doppelsinnigen Titel »Die vermessene Theorie« einer fundamentalen Wissenschaftskritik unterzogen.V. Schurig
Universal-Lexikon. 2012.